„Die größte Herausforderung ist die Bekämpfung des Arbeitskräftemangels“

09.05.2022

Mit dem Vorstandsvorsitzenden Michael Scheffler und Geschäftsführer Uwe Hildebrandt haben wir über ihre Erwartungen an die neue Landesregierung gesprochen, die am 15.05. in Nordrhein-Westfalen gewählt wird.

Herr Scheffler, Rio Reiser hat mal einen Song mit dem Titel „König von Deutschland“ veröffentlicht, in dem er seinen Wünschen musikalisch freien Lauf lässt. Das klingt natürlich verlockend. Was würden Sie denn als erstes ändern, wenn Sie „König“ von NRW wären?

Michael Scheffler: Da die Kinder und Jugendlichen die großen Verlierer der Pandemie sind, würde ich durch das Land reisen und mit ihnen sprechen. Aus den Ergebnissen dieser Gespräche würde ich ein großes Programm zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen auflegen, um zu kompensieren, was man ihnen genommen und angetan hat. Ich glaube nämlich, dass die Kinder ihre Bezugspersonen in der Kita oder in der Schule und ihre Kumpel und Kumpelinen brauchen, auf die sie zum Teil verzichten müssen. Und zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass zu Hause nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen herrscht, sondern dort hat es wahrscheinlich auch mal Konflikte gegeben.

Herr Hildebrandt, und Sie?

Uwe Hildebrandt: Ich würde wie Dagobert Duck den Geldspeicher öffnen, aber für eine gerechte Verteilung der Corona-Prämie. Es ist unerträglich, dass aktuell darüber diskutiert wird, dass auch Beamte, die die letzten zwei Jahre im Home-Office kaum Kundenkontakt hatten, eine zweite Prämie erhalten sollen, während andere Berufsgruppen bis heute noch keine einzige erhalten haben. Da denke ich an unsere Kitas und an unsere offenen Ganztagsschulen. Denn selbst als die Schulen geschlossen hatten, war die OGS geöffnet und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich um die Kinder gekümmert und sich gleichzeitig einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt.

Was sind in Bezug auf den Bezirk die größten Herausforderungen der Landespolitik?

Michael Scheffler: Die größte Herausforderung ist die Bekämpfung des Arbeitskräftemangels, der sich inzwischen eigentlich in allen Bereichen darstellt. Die Märkte sind gewissermaßen leergefegt. An die Landesregierung habe ich die klare Erwartung, dass sie sich dem Thema Schule und Beruf zuwendet und dafür sorgt, dass Ausbildungen für junge Menschen mit Abschlüssen von allen Schulformen zugänglich sind. Einen Verdrängungswettbewerb darf es nicht geben. Auch das große Thema Wohnen bewegt viele Menschen. Besonders junge Menschen können die teils hohen Mieten kaum stemmen. Und die Wohnung muss auch geheizt werden. Das Thema Energiearmut wird in Zukunft ebenfalls eine Rolle spielen. Auch der Klimaschutz steht auf unserer Agenda. Dieser kann nur funktionieren, wenn es genug flächendeckenden ÖPNV gibt.

Stichwort Klimaschutz… welche Anreize braucht es?

Uwe Hildebrandt: Wir brauchen andere Refinanzierungsregelungen. Wir investieren in diesem Jahr 25 Millionen in die Bestandshäuser, unter anderem um neue Heizungen zu installieren. Das eingesparte Geld könnte als Kostensenkung bei den nächsten Pflegesatzverhandlungen vom Pflegesatz abgezogen werden. Das heißt wir profitieren nicht von den Investitionen. Und auch andere Investitionen wie beispielsweise Verschattungsanlagen werden gar nicht finanziert. Diese sind eine umweltfreundliche Alternative zu Klimaanlagen und zudem in den Seniorenzentren im Rahmen des Klimawandels ratsam.

Welche dringenden Anpassungen sind in der Pflege nötig?

Uwe Hildebrandt: Der Eigenanteil muss unbedingt begrenzt werden. Pflege darf kein Armutsrisiko sein. Wir wehren uns gegen eine weitere Privatisierung der Bereiche. Wo es um Kitas, OGS und Pflege geht, hat Rendite- und Gewinnerwartung nichts zu suchen. Da geht es um Chancengerechtigkeit und um die letzte Lebensphase für Menschen, die dieses Land aufgebaut haben und die haben es nicht verdient am Ende ein Rendite-Objekt zu werden.

Michael Scheffler: Da darf auch die Einführung der Pflegebürgerversicherung nicht fehlen; eine Forderung, die wir seit langer Zeit haben. Zusätzlich wünsche ich mir von der Politik, dass eine verbindliche Sozialplanung für ältere Menschen zu einer kommunalen Pflichtaufgabe wird.

Stichworte Kita und OGS. Die Pandemie hat gezeigt, dass diese Bereiche existenzrelevant für Familien und Bildungsgerechtigkeit sind. Wie stärken wir die Einrichtungen, damit sie diese wesentlichen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben stemmen können?

Uwe Hildebrandt: Bildung muss kostenlos sein. Eine Spaltung darf nicht schon bei den Kleinsten in der Kita beginnen. Private Anbieter haben teilweise Kursangebote, die kostenpflichtig sind. Das können sich nur die Eltern leisten, die genug Geld haben. So eine Spaltung gibt es bei der AWO nicht. Ich habe immer gedacht, dass wir in einem Land leben, in dem jeder die gleiche Chance bekommt. Auch Integration kann so nicht funktionieren, da müssen Kommunen stärker in die Verantwortung genommen werden, um Chancengerechtigkeit zu schaffen.

Michael Scheffler: Der richtige Weg wäre, wenn wie im österreichischen Burgenland alle privaten Träger von Seniorenzentren innerhalb der nächsten fünf Jahre in die Gemeinnützigkeit übergehen müssten. Das würde ich übrigens auch einführen, wenn ich König von Deutschland wäre…

Ob zuhause oder in der Pflege – vor allem Frauen haben in der Pandemie sehr viel leisten müssen. Besonders hart hat es Alleinerziehende und ihre Kinder getroffen. Was braucht es, um Alleinerziehende zu stärken?

Michael Scheffler: Man muss sich darauf verlassen können, dass das Angebot in Kindergarten und Grundschule aufrechterhalten wird. Ich kenne viele Alleinerziehende, die sagen „ohne Oma und Opa könnte ich gar nicht arbeiten“. Ein weiterer Ansatz wäre es, die Grundschulen zu Familienzentren weiterzuentwickeln. Zudem gibt es einen hohen Handlungsbedarf im Hinblick auf die Armutsquote bei Kindern, die trotz boomender Konjunktur gestiegen ist. Eine Art Feuerwehrfonds könnte Alleinerziehenden schnell und gezielt in einer Notsituation helfen. Zudem setzen wir als AWO große Hoffnungen darauf, dass auf Bundesebene unsere alte Forderung nach der Kindergrundsicherung umgesetzt wird. Das Motto „Kein Kind zurücklassen“ gilt nach wie vor.

Uwe Hildebrandt: Wenn wir erwarten, dass es verkaufsoffene Sonntage gibt, dann müssen die Verkäuferinnen und Verkäufer auch die Chance haben, ihre Kinder am Wochenende oder zu Randzeiten in der Kita betreuen lassen zu können. Wenn wir an die Alleinerziehenden denken, müssen wir auch an die Kinderbetreuung denken. Wir würden gerne Alternativen schaffen, aber dafür braucht es Fachkräfte und ein bestimmtes Budget.

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